Sonntag
08.09.2024
TICKETS
Vorverkauf: 25,20 Euro Abendkasse: 28,00 Euro
Einlass: 19:00 Uhr Beginn: 20:00 Uhr
Scala Club

Chris Jagger

In concert!

Chris Jagger war sehr beschäftigt. So, wie auf den ersten Blick eigentlich immer. Da gab es einerseits das Songwriting: Zusätzlich zum Stapel der mehr als einhundert Kompositionen, die er in den letzten Jahren geschrieben, aufgenommen und veröffentlicht hat, war er ebenfalls auf dem Dutzend Alben zu hören, die von ihm erschienen sind. Einige davon im Alleingang, andere mit seiner Band Atcha. Und dann gab es da noch seine kleine Tierhaltung, die er gemeinsam mit seiner Frau in seinem Bauernhaus in der Nähe von Glastonbury betreibt, in dem die beiden nun schon seit zwanzig Jahren heimisch sind und sich den Hof mit diversen Hühnern und Schafen teilen. Interessierte sollten ein Ohr offenhalten, ist das liebe Vieh doch in einer kleinen Statistenrolle auf seinem brandneuen Album „Mixing Up The Medicine“ zu hören, dessen Release für den 10. September via BMG geplant ist.

Außerdem hat Jagger den Lockdown damit verbracht, endlich seine Autobiographie „Talking To Myself“ zu beenden, an der er seit geraumer Zeit gearbeitet hat und die ebenfalls am 10. September erscheint. Ein prall gefülltes, detailfreudiges und amüsantes Gossip-Märchen, das weit zurück auf seine Jugend in Dartford, Kent zurückblickt, wo er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Mick aufwuchs. Und natürlich zeichnet es das Erwachsenwerden der beiden Geschwister nach – und ihre eng verbundene, lebenslange Liebe zum Blues. Und nicht zuletzt sind auch die musikalischen Abenteuer des jüngeren Jaggers ab Beginn der 70er Jahre verzeichnet; inklusive recht unterhaltsamer Exkurse über seine Reisen nach Indien, Pakistan, Afghanistan und nach Israel, wo er in einer Produktion des Musicals „Hair“ mitwirkte.

„In den 1990ern dachte ich daran, ein Buch zu schreiben, als ich an einigen journalistischen Beiträgen arbeitete“, erklärt der lebenslange Multitasker, der laut seiner illustren Vita zudem die Bretter mit Pierce Brosnan und Ciarán Hinds geteilt hat, Blues-Dokumentationen für die BBC und Sky Arts produzierte und flüchtige Textergänzungen zu den beiden Rolling Stones-Alben „Dirty Work“ und „Steel Wheels“ hinzufügte. „Ich habe versucht, das Projekt ein paar Leuten vorzustellen. Ich stellte fest, dass die Literaturwelt eher schwerfällig funktioniert. Ich nahm mir einen Literaturagenten – und wir sprechen hier von einer Zeit, in der man seine Briefe noch auf der Schreibmaschine einhämmerte – brachte es aber nicht viel weiter als auf ein paar Probe-Kapitel. Also legte ich meine Pläne erstmal auf Eis. Das Lustige war: Sobald ich das altehrwürdige Alter von 40 Jahren erreicht hatte, schien sich auch meine Einstellung zu ändern. Ich entschloss mich, nur noch zu tun, was ich selbst wollte und mich nicht mehr darum zu kümmern, was Andere darüber denken könnten. Vielleicht war ich in der Vergangenheit einfach zu bemüht, meine Unzulänglichkeiten zu verstecken und scheute mich vor der Kritik Anderer. Man übertreibt es einfach, seine Taten zu rechtfertigen. Was die Leute sagen oder in der Zeitung über dich schreiben, kann extrem verletzend sein, wenn man es zu sehr an sich heranlässt.“

„Ich dachte nur: Scheiss drauf…“, ergänzt Jagger. „Und fuhr fort, die Musik zu spielen, die ich spielen wollte. Auch wenn sie nicht kommerziell war. Irgendwann würden sich die anderen schon daran gewöhnen und einlenken. Eine Tatsache über die Cajun-Musik – so dachte ich – wäre, dass sie nie aus der Mode kommen würde. Weil sie einfach nie groß in Mode war. So wie Folkmusic, die immer da ist und die Leute immer neu für sich entdecken.“

Also setzte Jagger die Arbeiten an seinem Buch im Jahr 2019 fort. Auch, wenn dies hieß, eine kleine Pause von seinen Liveauftritten einzulegen, mit denen er sich den größten Teil seines Erwachsenenlebens vertrieben hatte. Seine letzte Konzertreise bestand aus einer World-Tour mit Charlie Hart im Jahr 2018/ 2019. Den folgenden Lockdown verwandelte er kurzerhand in eine unvorhergesehene Zugabe, wie er weiter erklärt. „Das Schreiben nahm mehr Zeit in Anspruch, als ich erwartet hatte.
Mir wurde klar, dass ich dem Buch meine ganze Aufmerksamkeit widmen musste. Das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Es ist gut und schön, ein paar Geschichten miteinander zu verbinden. Doch was war es, was meinen persönlichen Stil ausmachte? Ich schrieb alles ganz allein – ohne die Hilfe eines Ghostwriters – und musste meine ganz eigene Stimme finden. Man will ja nicht zu literarisch werden. Aber vielleicht ein ganz kleines Bisschen. Also warum nicht?“

War es auch wichtig, seine Geschichte der Rolling Stones zu erzählen?

„Nun ja. Wenn man das Glück hatte, seinen Bruder mit 14, 15 Jahren in einer Blues-Band zu erleben, sind diese Geschichten in meinen Augen interessanter als die Erfahrungen, die meine Altersgenossen sonst so gemacht haben. Sie mochten Marty Wilde und Cliff Richard, während ich Jimmy Reed und Howlin` Wolf hörte. Das war so viel erwachsener. Diese Musik zu kennen, gab einem den Ausblick in eine völlig andere Welt.“

„Im Buch gibt es eine Passage, in der ich mir die so langsam flügge werdenden Rolling Stones im Londoner The Scene Club anschaue“, so Chris weiter. „Ich hatte das tatsächlich vor ein paar Jahren schon mal aufgeschrieben, als ich mich noch an jede Einzelheit wie Keith und sein Barrett erinnern konnte. Das erschien mir als wichtiges Element, also habe ich versucht, es nochmal zum Leben zu erwecken. Die Kapitel, die mir am meisten Spaß gebracht haben, waren jedoch die über meine Reisen; besonders nach Indien. Ich hätte wohl ein Reisejournalist werden sollen. Doch ich habe nicht wirklich wert daraufgelegt, jedem von den wunderschönen Orten zu erzählen, an denen ich war. Man wäre nur dort hingeströmt und hatte sie zerstört!“, fügt der ebenso höchst amüsante wie auch sachliche Chris Jagger hinzu, der offenbar schon in jungen Jahren eine ordentliche Portion Wahrheitsserum aufsog, von der er bis heute zehrt.

Andere Frage: Wird „Talking To Myself“ die einzige Aufzeichnung der Jagger-Familie bleiben, falls Mick niemals seine eigenen Memoiren schreibt?

„Well… Ich habe keine Ahnung“, so Chris zögernd. „Ich erzählte ihm, dass ich mein Buch fast fertig hätte und wir uns nun an seines machen sollten. Er hat nur gelacht. Er würde ein fantastisches Buch schreiben. Er verfügt über eine extrem gute Erinnerungsgabe; allein deshalb würde ich seine Story gerne mal lesen. Wir teilen die gleichen frühen Einflüsse, in deren Zentrum immer unsere Eltern standen. Ich hoffe, die LeserInnen werden diese Einzelheiten mögen; wie meine Mutter und mein Vater ausgesehen haben zum Beispiel. Das Schreiben kann oft sehr nüchtern und erklärend sein; es muss nicht immer poetisch sein. Ich habe sogar ein paar Rezepte mit eingebaut“, so Chris lächelnd.

Und der Titel? Chris beichtet schmunzelnd, dass er eine Weile dafür in Anspruch nahm.

„Als Alternativtitel hatte ich `I Was There` im Kopf. Oder auch `Relative Obscurity`“, so die lachende Antwort. „Es ist ja nicht so einfach, einen Titel zu finden. Elton John hat sein Buch `Me` genannt. Ist das etwa ein guter Titel?“

Am Ende machte dann doch „Talking To Myself“ das Rennen – ein Titel, der sich ebenfalls als Jazz-angehauchter Song auf seinem kommenden Album „Mixing Up The Medicine“ wiederfindet. Mit einer Veröffentlichung einen Tag später, am 10. September stellt „Mixing Up The Medicine“ eine lockere, lebendige Sammlung von Jagger/ Hart-Originalen dar; manche in Zusammenarbeit mit einem seit 172 Jahren verstorbenen Dichter entstanden, der Rest mit seinem langjährigen musikalischen Flügelmann und Pianisten, Charlie Hart.

Gemeinsam arbeitete man intensiv aus einem Studio im Süden Londons nahe Charlie Hart’s Haus in Lewisham, in Jaggers Bauernhaus und auch online, wenn die Lockdown-Bestimmungen gerade nichts anderes zuließen.
„So eng wie auf diesem Album haben wir noch nie zusammengearbeitet“, so Jagger.

Als Verstärkung berief man eine wahre Hitlist-Riege renommierter Musiker, die das Ihrige zu den Kompositionen beisteuerten. Namentlich sein alter Freund Olly Blanchflower am Doppelbass, Atcha-Bandkollege Dylan Howe an den Drums („ein angesehener Jazz-Musiker, der auch Rock `N Roll mit Wilko Johnson spielt“) sowie der altgediente Producer-Veteran John Porter, der mit allem gearbeitet hat, was Rang und Namen hat: Angefangen bei The Smiths bis Roxy Music, Buddy Guy, BB-King und Elvis Costello. Porter wiederum brachte den erfahrenen Gitarristen Neil Hubbard (Bryan Ferry, Joe Cocker) sowie ein paar von Harts Südlondoner Kumpels an den Bläsern mit ins Boot, Nick Payn und Frank Mead.

„Danach brachte ich noch John Etheridge mit rein – einen alten Bekannten, der irgendwann mal mit Soft Machine gespielt hat. Er hat ein paar Jazz-Gitarren beigesteuert. Außerdem kam noch Jody Linscott an den Percussions dazu, die ich seit den 70ern kenne. Größtenteils wurden die Tracks live im Studio mitgeschnitten. Damit kenne ich mich am besten aus. Außerdem ist das eine einträchtige Beschäftigung.“ Eine Kategorie, in die man auch Bruder Mick als Backing-Sänger einsortieren könnte.

Für ihre Inspirationen schweiften Chris und Charlie buchstäblich in die Ferne:
„Charlie hat ein Herz für den Jazz, also haben wir zwei oder drei Tracks in diesem Stil aufgenommen. Dann entdeckte ich diesen seltsamen Dichter namens Thomas Beddoes“, so Chris über den im 19. Jahrhundert lebenden Autoren und Physiker. „Ich las ein Buch von Ezra Pound, der Beddoes erwähnte. Ich dachte, da Pound ihn erwähnt, sollte ich ihn auch mal nachschlagen. Ich beschäftigte mich mit seinem Buch `Death´s Jest Book`, in dem diese echt seltsamen Stücke zu finden sind. Er war ein Dichter aus Bristol; sein Vater war ein Bekannter von Shelley. Vielleicht schlug er deshalb nach diesen Dichtern der Romantik. Außerdem war er Alkoholiker und brachte sich 1949 in Basel um, indem er sich vergiftete. Er wurde nur 45 Jahre.“

„Ich nahm seine Verse und verarbeitete sie in der Musik“, so Chris weiter. „Ich dachte, er könnte als größtenteils verkannter und unbeachteter Dichter ein wenig Ruhm gebrauchen. Gerade von diesem Schlag gibt es ja genug…“ Und so finden sich seine Gedichte auf drei Songs wieder: Auf dem unwiderstehlichen, an Madness erinnernden Ska-Pop-Opener „Anyone Seen My Heart?“, dem Shanty-lastigen „Love´s Horn“ und dem Voodoo-Soul getriebenen „Wee, Wee Tailor“. In Harts Jazz-Kategorie fallen dagegen „Talking To Myself“, das vom Vibe New Orleans` geschwängerte „Merry Go Round“ und der spätnächtliche Crooner „A Love Like This“. Nicht zu vergessen das tröstliche Blues-Lamento „Hey Brother“; eine berührende Ode an die lebenslange Verbindung zwischen Brüdern.

Eines jedoch verbindet alle Songs zu einer Einheit: Eine gewisse Unbehauenheit, eine Lockerheit und der Gemeinschaftssinn verschworener Kumpels, die zusammen jede Menge Spaß haben. „Sehen wir mal den Tatsachen ins Auge: Wir kommen so langsam ans Ende unserer Karrieren“, fasst Chris zusammen. „Man weiß nie, ob man gerade sein letztes Album macht. In Anbetracht dieser ganzen Musiker hatte ich das Gefühl, dass sie alle zeigen wollten, dass sie es noch draufhaben. Und dass sie viel engagierter sind, als wenn es sich um eine ganz normale Session gehandelt hätte. Alle waren mit Leib und Seele dabei.“

Das Ergebnis heißt „Mixing Up The Medicine“: Ein genussvolles, lebensverlängerndes Album eines in den unterschiedlichsten Musikstilen versierten Mannes, eingedampft auf zehn unverschnörkelte Stücke. „Irgendwann wurde mir klar, dass `mixing up the Medicine` ebenfalls eine Zeile aus dem `Subterranean Homesick Blues`-Album ist“, so Jagger augenzwinkernd. „Hatte ich komplett vergessen. Aber ich bin eben ein großer Bob Dylan-Fan, also kann das wohl nichts Schlechtes sein, oder?“

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